Das große Mysterium

© 2010
Die Welt schien stehen zu bleiben. Kaum spürbar war der Puls der Patientin. Aber sie lebte, schlief.
Ich verzichtete auf die Prozedur, ihr die Blutdruckmanschette um den abgemergelten Arm zu legen. Wozu sie wecken.
»Ist sie ...?«, fragte ihr Mann, als ich mich vom Bett abwandte. Seine Augen schimmerten feucht – und doch lag ein Ausdruck von Hoffnung darin. Seit dem frühen Morgen wachte er an ihrer Seite. Wartete.

Ich schüttelte den Kopf, legte ihm die Hand auf die Schulter und ging zur Tür. Ich wartete ebenfalls. Auch auf Monika, die in einer halben Stunde zur Spätschicht erscheinen würde.
Christine hatte angeboten zu bleiben. Als Stationsleitung fühlte sie sich verantwortlich. Aber ich hatte sie in die Pause geschickt. ›Hau ab! Immerhin musst du um fünf schon wieder hier sein. Ich schaff' das schon‹, waren meine Worte gewesen. Wie jeden Sonntag schoben schließlich wir alle seit halb sieben in der Früh einen Neunstundendienst. Ich hatte dabei den ›Joker‹ gezogen: durchgehend bis um vier.
Darum war ich jetzt allein auf Station.

Bevor ich auf den Gang hinaustrat, sah ich noch einmal zurück. Zärtlich strich Herr Schneider seiner Frau eine Strähne ihres schütteren Haars aus der Stirn, rieb sich die Tränen fort. Wäre er nicht gekommen, hätte ich in dieser Stunde zwischen 13 und 14 Uhr an ihrem Bett gesessen. Auch, wenn sie seit dem frühen Morgen nicht mehr aufgewacht war, spürte die Sterbende die Anwesenheit eines anderen. Doch ich wäre ein schlechter Ersatz für ihren Mann gewesen. Ich kannte die arme Frau kaum. Erst vor einem Monat hatten wir sie in unser Altenheim bekommen. Mit einem Dekubitus, wie er schlimmer nicht sein konnte: offener Rücken bis auf die Knochen. Wenn sie bewegt worden war, hatte man ihre Schmerzensschreie noch im hintersten Zimmer der Station gehört. Darum wartete ihr Mann auf ihren Tod, selbst, wenn es ihm das Herz zerriss. Wie groß und innig musste die Liebe der beiden sein!
Leise schloss ich die Tür und schlurfte in das angrenzende Stationszimmer. [...]


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» ... und die Welt stand still ... «

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