Begegnung an Weihnachten

© 2005
Peter rieb sich die kalten Hände und stapfte nervös von einem Fuß auf den andern. Sicher, es waren auch die eisigen Temperaturen, die ihn dazu veranlassten, sich zu bewegen, während er auf den Zug aus München wartete. Aber mehr noch war es Nervosität, die ihn nun schon seit Tagen trieb, seit jener Email, in der ihm Stefanie mitgeteilt hatte, dass sie sich mit ihm treffen wollte. Er hatte sie ja noch nie gesehen! Ja, gut, ein Bild hatte er von ihr, und seit einem halben Jahr nun »trafen« sie sich jeden Abend, um online miteinander zu kommunizieren. Nahe waren sie sich in dieser Zeit gekommen, kannten einander so gut. Aber wirklich gesehen hatten sie sich doch noch nie. Daher war es eigentlich eine verrückte Idee.

»Weihnachten möchte ich mit dir in einer einsamen Hütte in den Bergen verbringen«, hatte er ihr irgendwann vor gut einem Monat geantwortet, als sie ihm die Frage gestellt hatte, wie er dieses Jahr das Fest der Liebe verbringen würde. Er hatte ja gar nicht damit gerechnet, dass sie sich darauf einlassen würde; sie hasste ja Weihnachten, wie er wusste, dieses ganze Heilweltgehabe. »Ich möchte dir zeigen, dass Weihnachten auch sehr schön sein kann«, hatte er darum gemeint. Und nun stand er also tatsächlich hier, in Innsbruck, wartete, dass der Zug endlich kam und hatte auch schon längst eine Hütte in den Bergen reserviert, wobei ihm ein Arbeitskollege hilfreich gewesen war. »Vitamin B« hatte sich also auch diesmal nützlich erwiesen.

Schon zum wiederholten Male fiel sein Blick auf die Stationsuhr, die einige Meter entfernt angebracht war, als die Stimme aus den Lautsprechern endlich die Ankunft des EC 87 verkündete. Schlagartig steigerte sich sein Puls. Jetzt würde es nur noch wenige Minuten dauern, bis er Stefanie endlich zum ersten Male zu Gesicht bekam!

Peter verrenkte sich den Hals bei dem Versuch, durch die Tore des Bahnhofs den Zug zu erblicken. Und dann, dann kam er endlich, der EC, in dem Stefanie sitzen musste, jene unbekannte Vertraute, die sie ihm geworden war und in die er sich bis über beide Ohren verliebt hatte. Ihr ganzes Wesen in Kombination mit dem Bild, das sie ihm geschickt hatte, reichte dafür aus.

Als der Zug anhielt und sich die Türen öffneten, warf Peter dennoch einmal vorsichtshalber einen Blick auf das Porträtfoto, das er in der Innentasche seines Jacketts immer bei sich trug. Würde er sie erkennen? Hatte sie sich vielleicht verändert? Und wie sehr konnte ein Foto doch täuschen!

Der Bahnhof wimmelte von Leuten, doch Peter suchte unablässig mit den Augen die Türen des Zuges ab. Er würde sie sehen! Endlich würde er sie sehen, und dann würden sie die glücklichsten Weihnachten ihres bisherigen Lebens miteinander verbringen!

Als das Gedränge an den Gleisen langsam nachließ, sah Peter eine junge Frau, die wie verloren da stand. In der einen Hand hielt sie einen Koffer, in der anderen schien sie ein Bild zu halten, auf das sie immer wieder blickte.
Peter erinnerte sich, dass er auch Stefanie ein Passbild von sich geschickt hatte. Doch ... auf ihrem Bild hatte Stefanie lange, dunkelbraune Haare ... dort, die Frau auf dem Bahnhof, hatte einen blonden, modernen Kurzhaarschnitt. Er zögerte noch einen Moment, dann ging Peter auf sie zu.
Als die Frau bemerkte, dass er herankam, warf sie noch einmal einen raschen Blick auf das Foto in ihrer Hand, dann sah sie ihn an. »Peter?«, rief sie unsicher.
»Bist du ... sind Sie ... bist du Stefanie?«, stotterte er und spürte, wie sein Herz einen Sprung machte. Er hielt ihr die Hand entgegen und rang sich ein Lächeln ab.
»Peter!« Der fragende Ausdruck in dem hübschen Gesicht Stefanies wandelte sich in ein freudiges Strahlen. »Hallo! Endlich ...!« Statt seine Hand zu ergreifen, stellte sie den Koffer ab und nahm ihn in die Arme.
Einen kurzen Augenblick noch zögerte Peter, wusste nicht, wohin mit seinen Händen, dann drückte auch er sie. »Oh, Stefanie, wie schön, dass ich dich endlich kennenlerne!« Er strahlte über das ganze Gesicht.
Nachdem sie ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte, ließ ihn Stefanie wieder frei und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Du kennst mich doch, Peter! Aber dich hätte ich mir größer vorgestellt.« Sie zwinkerte ihm zu. »Na ja«, lachte Peter, »dich hatte ich mir eigentlich kleiner vorgestellt.« Er betrachtete sie schmunzelnd und musste feststellen, dass er sie sich überhaupt völlig anders vorgestellt hatte. Sie war nicht nur größer, nämlich immerhin fast so groß wie er, sie hatte auch eine sehr damenhafte Figur, die er bislang eher für etwas robuster erachtet hatte.
»Sollen wir dann ...?«, nickte er und hob ihren Koffer auf.

Während sie gemeinsam zum Ausgang des Bahnhofs gingen, warf sie ihm noch einmal einen Blick zu und sagte fröhlich: »Weißt du eigentlich, dass wir zwei ganz schön verrückt sind? Wir kennen uns doch kaum, haben uns aber beide darauf eingestellt, ein paar Tage zusammen zu verbringen. Irgendwo allein in einer Skihütte.«
Er nickte lachend. »Wärest du nicht so verrückt, wärst du nicht gekommen. Und wäre ich nicht so verrückt, hätte ich mich nicht so sehr in dich verliebt.«
Sie boxte ihm gegen den Arm und erklärte: »Ich habe gleich gewusst, dass du verrückt bist.« Und einen Moment später fügte sie hinzu, während Peter das Gepäckstück im Kofferraum seines Wagens verstaute: »Ich habe mich nicht in dich verliebt. Das ist dir ja wohl hoffentlich klar!«

Am Abend dieses Tages, als im Kamin der gemieteten Hütte ein wohliges Feuer knisterte, und sie durch die Fenster den Nachthimmel voller Sterne und schneebedeckte Tannen sehen konnten, zog Stefanie Peter in ihre Arme. »Du weißt ja, ich habe mich noch nicht in dich verliebt, wie ich dir ja heute Mittag schon sagte.«
Er nickte und strich ihr den Pony aus der Stirn. »Und du willst auf gar keinen Fall Weihnachten feiern, weil du es nicht magst. Ich weiß. Keinen Tannenbaum, keine Geschenke, nichts.« Sanft hauchte er ihr einen Kuss auf den Mund. »Schön, dass du wenigstens mit mir zusammen sein willst in diesen Tagen.«
»Weißt du, vielleicht solltest du morgen ja doch einen Weihnachtsbaum besorgen«, flüsterte Stefanie neckisch. »Und vielleicht bin ich ja doch auf dem besten Wege, mich in dich zu verlieben.«

Als Peter am nächsten Morgen erwachte, suchten seine Blicke vergeblich das zerwühlte Bett ab. Stefanie war nicht da. Er setzte sich und rieb sich die Augen. Mein Gott, wie großartig war das Leben!
Es war eine tolle Nacht gewesen, den besten Sex seit Jahren hatte er gehabt. Dies redete er sich zumindest ein. Denn vielleicht lag es auch einfach nur an den Umständen?
Auf jeden Fall fühlte sich Peter prima und dachte sehnsüchtig daran, was sie noch alles hier erleben konnten.
Skifahren, lange Spaziergänge, Zärtlichkeiten ... – Was brauchte er noch mehr zum Glücklichsein!

Er stand auf, streckte sich noch einmal und griff nach seinen Klamotten, die auf dem Boden des Zimmers verteilt waren. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es gar nicht kalt war. »Stefanie«, sagte er kopfschüttelnd. Sie war also bereits längst auf und hatte ein Feuer im Kamin entfacht. Und dabei hatte doch er sie verwöhnen wollen!

Schulterzuckend und mit einem Lächeln auf den Lippen verließ er den Schlafraum und betrat das geräumige Wohnzimmer, in dem tatsächlich ein Feuer im Kamin brannte und die ganze Hütte erwärmte. Stefanie war allerdings nicht da. Er ging um den Kamin herum und warf einen Blick in die angrenzende Koch- und Essnische. Auch dort fand er seine Stefanie nicht. Dafür aber erblickte er einen Zettel auf dem Tisch, auf dem sie ihm einen guten Morgen wünschte und ihm mitteilte, dass sie ins Dorf gegangen war. »Danke für die schöne Nacht, Stefanie«, stand darunter.

Peter war verunsichert. Warum hatte sie ihn nicht geweckt, sondern war alleine losgezogen? Und überhaupt: Irgendwie kam ihm dieser Brief nichtssagend und kalt vor.
Nun gut, Stefanie lebte allein, und sie war Selbstständigkeit gewohnt. Insofern war es natürlich schon nett, dass sie ihm wenigstens diese wenigen Zeilen geschrieben hatte. Aber dass sie einfach so fort war ...? [...]


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