Kirschennaschen

© 2005
Als ich ein Kind war, spielte ich oft auf den Feldern hinter unserem Haus. Vor allem jener Kirschbaum hatte es mir angetan. Mit den anderen Kindern spielte ich gerne Verstecken, doch leider wurde ich stets sehr schnell gefunden, weil ich den süßen Früchten nicht widerstehen konnte und mich jedes Mal am selben Platz versteckte: jenem Kirschbaum.

Später, als ich herangewachsen war und der Krieg ausbrach, wollten meine Eltern auch, dass ich mich versteckte, um nicht zum Militär zu müssen.
Der Kirschbaum, dessen dichtes Laub mich als Kind verborgen hatte, kam nun jedoch nicht mehr in Betracht, und so verkroch ich mich auf dem Dachboden. Als dann aber die Soldaten kamen, um zu rekrutieren, durchsuchten sie das ganze Haus, bis sie mich fanden.

Die Kämpfe dauerten lange, und ich sah viele Kameraden sterben. Ich freute mich auf mein Zuhause. Heimweh, Trauer, Wut und Angst bedrängten mich täglich, in jeder Stunde. Doch am schlimmsten waren die Nächte, in denen nichts geschah. Wir lagen auf unseren Betten, hörten in der Ferne den Donner der feindlichen Kanonen, warteten gebannt auf einen erneuten Angriff, während unsere Körper erschöpft von den Gefechten des zurückliegenden Tages waren und nach Schlaf verlangten, den aber die Gedanken in unseren Köpfen nicht zuließen.

Sechzehn Jahre war ich alt, als ich von meinen Eltern fortgenommen wurde. Zweiundzwanzig bin ich nun, als ich zum ersten Mal Heimaturlaub bekomme. Doch das Haus gibt es nicht mehr. Meine Eltern sind tot. Lediglich den Kirschbaum auf den Feldern dahinter – ihn habe ich wiedererkannt.

Nun sitze ich hier, eingehüllt in eine dicke Decke, am Fuße des Baumes und friere. Der Schnee liegt hoch, und ich denke sehnsuchtsvoll an die Zeit zurück, als dieser Baum Früchte trug. Bald schon ist mein Urlaub zu Ende, und ich weiß nicht, ob ich je wieder von diesen Kirschen naschen werde.

E N D E
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