Der Rote Adler

© 2009
Das Land war vom Krieg gezeichnet. Stolze Städte lagen verwaist in Schutt und Asche. Höfe und Burgen waren zu Ruinen verkommen. Wer noch am Leben war, litt Not; das Vieh in den Ställen, das Getreide auf den Äckern war von Soldaten beschlagnahmt – von welchen, was spielte das für eine Rolle.
Kirsten war verzweifelt über so viel Elend. Nie hätte sie gedacht, dass es so um dieses Land und die armen Menschen bestellt war. In Stockholm, fern des Krieges, war ihr dieser zwar bewusst gewesen, aber was sie nun zu Gesicht bekam, ließ ihr das Herz schmerzen. Wie gut hatte sie daran getan, den Onkel zu begleiten, entgegen allen Warnungen! Es war höchste Zeit, diesem bereits über zwanzig Jahre andauernden Geschehen ein Ende zu bereiten.

»Und du bist sicher, dass dieser Gerd Vom Breiten Rheine Frankreich zu Verhandlungen bewegen kann?«, fragte sie den hochgewachsenen, doch gleichsam dünnen Mann an ihrer Seite.
Baron Ölsund, der ihr Onkel war, zwirbelte seinen ergrauten Schnauzbart und sah aus dem Fenster. Brachliegende Weinberge zogen an ihnen vorbei. Die Droschke holperte auf einen Fluss zu.
»Immerhin hat dieser Kerl einst Marschall Depardieu das Leben gerettet – wenn auch unfreiwillig«, antwortete Baron Ölsund. »Dieser Soldat ist ein enger Vertrauter von Frankreichs Krone. Mit Vom Breiten Rheine wäre unsere Situation in jedem Fall eine günstigere.«

Gerd vom Breiten Rheine, einst Offizier unter General Wallenstein, war unehrenhaft aus der Armee entlassen worden, weil er es gewagt hatte, der Dame seines Herrn den Hof zu machen. Angewidert verzog Kirsten das Gesicht. Der Onkel führte eine Begnadigungsurkunde über diesen Weiberhelden bei sich ... als auch ein Dokument, in welchem der König von Schweden Frankreichs Staatsoberhaupt um eine Unterredung bat; für den Fall, dass Vom Breiten Rheine nicht gefunden werden konnte, hatte der Baron die Order, selbst beim Feind vorzusprechen. – Wie lächerlich!, fand Kirsten. Wer war der Feind, und warum setzten sich die Regenten nicht einfach alle an einen Tisch und diskutierten, anstatt so viel Leid über so viele Menschen zu bringen.
Verzweifelt seufzte sie.

»Dort!«, riss der Onkel sie aus ihren Gedanken. Er deutete auf einen Hügel. »Dies ist der Berg, an dem der Sage nach Siegfried den Drachen getötet haben soll. Das Nibelungenlied! Du hast doch sicher davon gehört? Wir sind im Siebengebirge. Nun ist es nicht mehr weit bis Koblenz, wo Vom Breiten Rheine zuletzt gesehen worden ist.«

»Ich weiß.« Kirsten rang sich ein Lächeln ab, dann blickte sie hinaus auf den Fluss. Dies war also der Rhein, einer der längsten Flüsse, den sie kannte. Wie breit er war! Und wie herrlich spiegelte sich in ihm die Sonne.
»Ob wir ihn dort finden?«, fragte sie. »Die Meldung ist schließlich acht Jahre alt, oder?«

Der Baron nickte. Versonnen begann er abermals an seinem Bart zu spielen.

Die Straße machte einen Bogen und führte vom Rhein fort, hinauf in eine höhere Lage. Dichter Wald umfing sie alsbald. Aus der Glut der Sommersonne entführt, fröstelte Kirsten und schmiegte sich an den Verwandten.
Dieser ergriff ihre Hand und tätschelte sie. »Keine Angst, Kind. Uns kann niemand etwas tun. Weder der Feind, noch wilde Gesellen. Nicht umsonst werden wir von acht Reitern begleitet.«
»Dummerchen!« Kirsten schmunzelte. »Ich habe keine Angst.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich wünschte nur, wir würden diesen Vom Breiten Rheine finden ...!«
Der plötzliche Schuss einer Pistole ließ sie verstummen. Das Krachen eines stürzendes Baums ertönte. Die Pferde wieherten. Mit einem Ruck kam der Wagen zum Stehen.

»Ergebt Euch und lasst Eure Waffen stecken!«, schrie jemand. »Die vier Vorausgesandten sind bereits in unserer Gewalt.«
Ein Mann stand vor dem Wagen. In jeder Hand hielt er eine Pistole.
»Datt wööt ech nit dunn!«
Ein Gesicht tauchte am Fenster auf. Der Baron, der nach seinen Waffen gegriffen hatte, ließ diese fallen. Arglistig linste der Bandit aus seinen Schweinsäuglein. »Su is et räch, ming Här.«
»Was fällt euch ein, ihr Gesindel!«, entfuhr es Kirsten. »Wir sind Gesandte des Königs ...« Sie verstummte, als mehr Männer aus den Büschen traten. Allesamt waren sie bewaffnet. Kirsten begriff, dass jeder Widerstand vergebens war.
»Los, Kutscher, helft meinen Leuten das Gepäck Eurer Herrschaft abzuladen!«, ertönte die Stimme des Räuberhauptmanns. Von den Pferden kam er heran und gab seinen Leuten den Befehl zur Plünderung. Obwohl er eine Maske trug, als wollte er auf einen Ball gehen, sah Kirsten ein spöttisches Lächeln in seinen Augen blitzen. Hünenhaft wirkte der Verbrecher in seinem weißen Hemd und den schwarzen Hosen. Lange dunkle Haare fielen unter seinem federgeschmückten Hut auf breite Schultern. Dann hielt der Mann vor der Tür neben ihrem Sitz an und wandte sich ihnen zu. Kirsten stockte der Atem. Ihr war, als blickte sie dem Teufel ins Gesicht. Dunklere Augen als jene hatte sie nie gesehen.

»Seht an, ein hübsches Frauenzimmer!«, rief der Kerl, riss die Tür auf und nahm den Hut vom Kopf, indem er sich verbeugte. Kirsten hörte ihren Onkel verzweifelt stöhnen.
»Verzeiht, mein Fräulein, doch ich muss Euch ...«, der Räuberhauptmann warf einen verächtlichen Blick auf den Baron, »und Euren Begleiter bitten, auszusteigen. Ihr werdet unsere Gäste sein müssen. Dank dem Krieg ist die Not groß unter den Menschen, und wenn Ihr Seiner Majestät Gesandte seid, benötigen wir Eure Hilfe.« Er streckte ihr die Hand entgegen, um ihr beim Aussteigen zu helfen.
»Wir ...«, Kirsten unterdrückte den Kloß in ihrem Hals, »wir sind unterwegs, um dem Krieg ein Ende zu bereiten. Dann wird die Not ein Ende haben!«
»Es haben schon Viele versucht, das Leid zu beenden.« Noch immer streckte er ihr die Hand entgegen.
»Wir haben eine Urkunde ...« Kirsten unterbrach sich, als ihr Onkel mit wildem Geschimpfe auf seiner Seite aus der Droschke gezerrt wurde.
»So lasst uns doch ...!«, hob sie an. Aber die schwarzen Augen starrten unnachgiebig.
»Steigt aus!«

Zögernd gehorchte Kirsten. Verzweifelt sah sie nach den Wachen. Die Vier waren längst gefesselt.
Noch einmal sah der Hauptmann sie an, dass ihr heiß und kalt zugleich wurde, dann ging er und schenkte einem von ihnen die Freiheit. Dieser sollte offenbar die Botschaft überbringen, dass Baron von Ölsund und seine Nichte gefangen waren.

Als ihr Onkel, die Hände auf dem Rücken gefesselt, neben sie gestoßen wurde, war es für Kirsten, als bräche die schwärzeste Nacht ihres Lebens an. Unter den wütenden Blicken der Räuber und im Anbetracht ihrer Degen, Lanzen, Pistolen und Knüppeln setzte sie sich widerstandslos in Bewegung, als das Zeichen zum Aufbruch erklang.
Mit dem schwarzhaarigen Teufel war nicht zu sprechen. Er hatte seine Meinung ... und er beachtete sie ohnehin keines Blickes mehr. [...]


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