Der Buchladen

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Gerade noch rechtzeitig hatte ich die Tür hinter mir zugezogen, sodass der Teller mit voller Wucht gegen ihr Holz gekracht und zersprungen war. Die wüsten Beschimpfungen Celines hatten mich jedoch noch durch das halbe Treppenhaus begleitet. Grußlos war ich an dem Nachbarn vorübergeeilt, der mir entgegenkam. Sein Blick hatte Bände gesprochen. Unsere Nachbarn kannten inzwischen unsere fast täglich stattfindenden Streitereien. Meist brachen sie wegen einer Kleinigkeit aus, dann gab ein Wort das andere, bis meistens ich die Flucht aus der Wohnung ergriff. So wie vorhin. Oft half mir die kühle Herbstluft, wieder einen klaren Kopf zu bekommen – heute allerdings schien der von schweren Regenwolken verhangene Himmel mein Gemüt zu reflektieren. Dabei hatte ich inzwischen schon vergessen, was der Auslöser für unseren erneuten Zoff gewesen war. Aber ich war noch immer wütend, und entsprechend schritt ich mit gegen den Nieselregen gesenktem Kopf und hochgeklapptem Kragen voran, ohne darüber nachzudenken, wohin ich ging. Schlussendlich würde ich ohnehin wieder heimkehren, zu ihr. Es war eine grausliche Vorstellung. Obwohl nichts mehr wie früher war, würden wir schließlich weiterleben. Als Ehepaar. Als verwaiste Eltern, deren Kind aus dem Mittagsschlaf einfach nicht wieder aufgewacht war. Darum ließ der Zorn in mir nicht nach. Statt ständig aufeinander loszugehen, hätten Celine und ich uns in die Arme schließen, die Trauer gemeinsam tragen sollen. Doch dies konnten weder sie noch ich. Unsere Herzen waren zerrissen.

Zornig trat ich gegen einen Mülleimer, der nach der Leerung mitten auf dem Bürgersteig stehen gelassen worden war und der nun scheppernd umstürzte.
Ich sah auf und stellte fest, dass ich mich nach den ein oder zwei Stunden, in denen ich schon unterwegs war – ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren –, in einer mir fremden Umgebung befand.

Dabei kannte ich die Stadt. Mein ganzes Leben hatte ich in dieser Metropole verbracht. Die alten Hochhäuser, die offenbar in den 20er– oder 30er-Jahren rechts und links an dieser Straße errichtet worden waren, waren mir jedoch unbekannt. Die Straße war fast menschenleer, und die Kreuzung, die ich in einiger Entfernung sah, kannte ich nicht. Auch ein Blick zurück konnte mir nicht helfen. Weder wusste ich, wann ich wo abgebogen war, um hierher zu gelangen, noch hatte ich auf Straßennamen geachtet. Ich hatte mich in meiner eigenen Stadt verlaufen.

Der Ärger verflog und ein anderes altbekanntes Gefühl, das mich schon seit dem Tod meines Sohnes begleitete, übernahm die Oberhand: Verlorenheit.

Gerade wollte ich umkehren und versuchen den Rückweg zu finden, da sah ich das Schild jenseits der Kreuzung. »BUCHLADEN« stand in vergilbten, einstmals goldenen Lettern auf einem schräg nach unten zeigenden Pfeil. Mein letzter Roman war ein Bestseller, geschrieben während Celines Schwangerschaft. Die Neugier, ob er auch hier erhältlich sei, trieb mich näher.

Eine schmale Treppe führte mich hinunter in das Untergeschoss des vor vielen Jahren in grauer Farbe gestrichenen, fünfstöckigen Hauses. Putz war abgeblättert und bedeckte die Stufen zur Ladentür. Kaum war ich die ersten Stufen gegangen, hielt ich inne. Das kleine Schaufenster schien seit Ewigkeiten nicht mehr geputzt worden zu sein. Nur schemenhaft waren einige Bücher in der Auslage zu erkennen. Meines befand sich daher wohl kaum dabei; das Geschäft musste schon vor Jahren aufgegeben worden sein. Warum war die Auslage aber nicht geräumt worden?

Unwillkürlich ging ich weiter – und entdeckte zu meiner großen Überraschung doch mein Buch hinter der verschmutzten Scheibe. Was war dies für ein Händler, wenn er den Laden so verkommen ließ? Ich nahm mir vor, ihn auf den Missstand anzusprechen.
Ein Glöckchen erklang leise beim Öffnen der Tür, und ich erkannte, dass sich offenbar niemand für den Zustand des Geschäfts verantwortlich fühlte – und ich der einzige Kunde seit Ewigkeiten sein musste. Zarte Gespinste hatten sich an den Bücherregalen gebildet, der Boden war staubbedeckt. [...]


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