Es

© 2010
»Warum hat er das gemacht?« Bettina seufzte und sah Katja an, die mit ihr gekommen war. Dann legte sie die Blumen auf das Grab und stand auf. »Ich versteh’s nicht.«
»Er wollte Frieden.« Katjas dunkel umrandete Augen in ihrem weiß geschminkten Gesicht blitzten. »Er hatte keinen Bock mehr auf diesen Scheiß.«
»Aber es wären wieder bessere Zeiten gekommen!« Noch einmal wandte sie sich dem frischen Grab zu. Leo Schmidt, 1988 – 2008, Love, Peace & Rock’n’Roll,las sie auf dem aufgestellten Kreuz an seinem Kopfende. Sie fröstelte bei dem Gedanken daran, dass er hier vor ihren Füßen begraben lag.

»Ihm hätte die neue CD von Crematory gefallen.« Der Stoff von Katjas schwarzem Mantel streifte ihren Arm. »Hören wir sie uns bei mir daheim an und denken an ihn.«
»Crematory
Die schwarz ausgemalten Lippen der Freundin verzogen sich zu einem Grinsen. »Eine unserer Lieblingsbands. Du hast sie schon gemeinsam mit ihm und mir gehört, Tina. Bitte lass uns jetzt gehen.« Bettina nickte hastig. Es war wahrlich ein widerlicher Oktobertag. Grauer Himmel breitete sich über ihnen aus. Die gefühlte Temperatur war aufgrund der herrschenden Luftfeuchtigkeit niedriger als die tatsächliche.

Während die Mädchen schweigend nebeneinander in Richtung Ausgang liefen, stellte Bettina die Ironie an der Sache fest: Katja war ihre beste Freundin. Leo hatte sie zusammengebracht. Er war nun tot. Hatte Gift genommen.
Von der Seite sah sie die Freundin an. Das Gothic-Mädchen passte wahrlich hierher. Sie, Bettina, kam auf diesen Friedhof, um die Großeltern, andere Verwandte und liebe Bekannte zu besuchen. Mit diesen stets schwarz gekleideten Menschen hatte sie früher nichts anfangen können, hatte einen Bogen um sie gemacht und für plemplem gehalten. Die taten schließlich nichts, außer herumzugammeln. Hatte sie zumindest gedacht, bis sie Leo kennengelernt hatte. Der liebte Gothic-Musik, kannte Leute aus der Szene und brachte sie mit Katja zusammen. Nun trauerten sie beide um ihn. Wenngleich die Freundin anders damit umging.

Sie erreichten das Friedhofstor. »Sag mal, Blondie: Was wäre, wenn Leo dir noch antworten könnte?« Mit ihrer Hand, die in einem schwarzen Seidenhandschuh steckte, ergriff Katja die Klinke. Sie zuckte mit den Schultern. »Mal abgesehen von den Antworten, die er in seinem Abschiedsbrief an diese profane Gesellschaft gegeben hat.«
Ja, der Abschiedsbrief. Er könne nicht mehr, er wolle nicht mehr, sie sollten ihm verzeihen …
»Ich würde ihn fragen, warum er das gemacht hat. Wieso er nicht den Mut gehabt hat, mit uns zu reden«, antwortete Bettina und schritt durch das nun offene Tor. »Und was er sich davon versprochen hat, als er einfach ging. Ich meine, warum lässt er uns allein? Waren wir nicht Freunde, die immer zueinanderstehen?«
Ein Schatten huschte über Katjas Gesicht. Sie vermied es, die Freundin anzusehen, während sie ihr folgte. »Verstehe.«

In Katjas altem VW Käfer fuhren sie zu ihrer Wohnung. Bettina wunderte sich jedes Mal, wenn sie in diesem Wagen unterwegs waren, dass er nicht auseinanderfiel. Die Kiste war über dreißig Jahre alt.

Der heiße Darjeeling, den Katja ihr vorsetzte, tat gut. Rasch fiel die Kälte von Bettina ab. Sie sah zu, wie die Freundin eine CD einschob. »Das ist die Neue von …?« Sie verstummte abrupt. Ein höllischer Lärm drang an ihre Ohren. In sie. Vor Schreck verschüttete sie Tee auf dem Boden. Erst als Katja die Lautstärke herunterdrehte, begriff Bettina, dass dies Musik war. Sie zog ein Papiertaschentuch hervor und reinigte die Dielen.
»Sorry!« Katja lächelte schief. »Ach, lass doch! Wollte hier morgen eh putzen.«
Bettina gab nichts drum. Das feuchte Papier legte sie neben ihre Tasse auf den Tisch. »Das also ist … äh …«
»Crematory,ja. Ist das nicht geil?«
Bettina lauschte und musste sich eingestehen, dass ihr diese Art Musik gefiel, seit sie sie zum ersten Mal mit Leo gehört hatte. Wenn sie nicht zu laut war. Begeistert nickte sie. Dieser Sound hatte was. Und war so wesentlich anders als R’n’B, Hip-Hop oder Techno – oder was die Leute sonst so hörten. Viel besser.

»Wir sollten sie ihm vorspielen ,meinst du nicht?«
Bettina hob den Kopf.
Katja saß da und sah sie herausfordernd an. »Der Gedanke kam mir auf dem Friedhof«, sagte sie. Geheimnisvoll lehnte sie sich vor. »Du hast noch Fragen an ihn. Und er … er will dir bestimmt noch etwas sagen.«
»Was? Wie meinst du das, er will mir noch was sagen? Warum hat er’s dann nicht?« Bettina wusste nicht, ob es an der Musik lag, die ihr mit ihren langsamen, tiefen, dann schrillen und hektischen Tönen ohnehin eine Gänsehaut bescherte. Ihre Augen wurden feucht. Wut und Verzweiflung schafften sich Raum, wie sie es zuletzt bei seiner Beerdigung getan hatten. Damals hatte sie geweint.

Katja zog die Schultern hoch. »Wahrscheinlich um’s nicht noch schlimmer zu machen.«
»Ja, was denn nur?«
Die Freundin nahm ihre Tasse und lehnte sich wieder in ihrem Sessel zurück. »Das geht mich nichts an. Das soll er dir selbst sagen.«
»Bist du irre?« Bettina sprang von der Couch auf. »Er ist tot! Wie kann er mir da noch irgendetwas sagen?«
»Irre bin ich nicht.« Katja stellte ihre Tasse zurück. Tee schwappte über. Sie war wütend.
»N… natürlich nicht«, stammelte Bettina. »Aber wieso sagst du dann so etwas?«
Katja stieß scharf die Luft aus ihren Lungen. »Na, weil wir die Möglichkeit haben, mit Leo zu sprechen.«
»Verarschen kann ich mich selbst.«
»Ich verarsche dich nicht.«
»Ach nein? … Sicher, wir können wieder zum Friedhof gehen, und dort kann ich ihn alles fragen, aber ich erhalte keine Antworten.«
»Blondie, setz dich wieder und sperr die Lauscher auf.«

Bettina war froh über diese Aufforderung. Ihre Knie fühlten sich weich an. Sie war gespannt, was nun kommen würde.
»Es gibt da dieses Gerücht … Du musst wissen, es ist nur ein Gerücht. Aber ein Versuch kann ja nicht schaden. Oder?«
»Welches Gerücht denn?«, drängte Bettina. Sie kam sich veralbert vor. Doch zunächst musste sie zusehen, wie Katja sich eine Zigarette anzündete.
»Das von Halloween«, sagte die und blies den Rauch gegen die Decke. »Angeblich kann man da die Toten rufen.« [...]


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