Der siebte Sohn

© 2009
Am sechsten Tag des sechsten Monats im sechsten Jahr wird sich erheben der siebente Sohn und führen die Heerscharen der Toten, die Welt zu unterwerfen.

Die rote Abendsonne spiegelte sich in der Klarsichtfolie, die Sir Robert McAppton in den Händen hielt. Das Pergament, das sie schützte, war Hunderte von Jahren alt, aber die jüngsten Erkenntnisse wiesen eindeutig auf die erste Dekade des zweiten Jahrtausends hin. Hier, auf dem einstigen Friedhof der alten Burg, würde sich die Prophezeiung erfüllen.
Langsam wanderten die Augen des Professors über die von Unkraut überwachsenen Gräber von Harlow Castle. Seit rund zweihundert Jahren hatte sich niemand mehr darum gekümmert. Die Burg war eine Ruine; der Totenacker von Unkraut überwuchert. Vogelgezwitscher erklang von den vereinzelt stehenden Bäumen. Die Luft war angenehm kühl nach einem heißen Tag und erfüllt vom Geruch der unterschiedlichsten Pflanzen. Einzig der Schmerz in seinem kleinen Finger verhieß McAppton, dass die Idylle täuschte. Auf seinen kleinen Finger war stets Verlass. Was aber hatte er zu erwarten, wenn in diesem Jahr eintrat, worauf er die vergangenen vergeblich gewartet hatte? Seit 2001 suchte er in jedem Sommer diesen Ort auf, in jedem Jahr stellte er sich aufs Neue die Frage. »Ich sollte nicht darüber nachdenken«, sagte er sich. »Ich werde es wissen, wenn es an der Zeit ist. Dann werde ich hoffentlich das Richtige tun.«

Wie oft schon hatte er einen Kampf mit Geistern und Dämonen geführt. Die meisten hatten die Welt beherrschen wollen – und waren doch nur größenwahnsinnig gewesen. Stets hatte er sie besiegt, auch wenn er manches Mal dabei bis an seine Grenzen gegangen war. Und wie oft hatte sich die vermeintliche Gefahr als natürliches Phänomen erwiesen!

Die Sonne warf nur mehr einen letzten rötlich-violetten Streifen am Horizont. Der Himmel war beinahe schwarz, und die ersten Sterne waren zu sehen. McAppton rollte das Pergament in seiner Schutzfolie zusammen und steckte es in seine Tasche. Dieses Mal würde es keine natürliche Erklärung geben.

Ein Nachtvogel schrie und ließ ihn zusammenfahren. Deutlich waren seine Flügelschläge zu hören, als sich das Tier auf seine Beute stürzte. Eine Eule (oder war es ein Uhu?) mit Etwas – vermutlich einer Maus – im Schnabel flog zurück in den dunklen Nachthimmel. Nicht weit von ihm entfernt, raschelte es im Geäst. Etwas bewegte sich dort. Es sah aus, als würde sich die Erde öffnen.

Ein Kloß bildete sich in McApptons Hals. Er knipste die Taschenlampe an und richtete den Strahl auf die Stelle.
Waren das Finger?! Eine ganze Hand kam zum Vorschein. Ein Tier, ganz in der Nähe, gab einen erschreckten Laut von sich und jagte davon. Eine zweite Hand erschien. Beide Hände zogen das Unkraut über dem kleinen Hügel auseinander. Erdreich bröckelte.

McApptons Herz begann kräftiger zu schlagen. Nun würde er sehen, womit er es zu tun hatte. Endlich konnte er dem Gegner gegenübertreten und ihn vernichten. Die Welt retten – oder selbst untergehen.

Ein letztes Mal schaufelten die Hände Schmutz davon. Dann kam ein Kopf zum Vorschein. Er war in bemerkenswert gutem Zustand für eine so viele Jahre vergrabene Leiche, fand McAppton. Blass schimmerte verfaultes Fleisch im Mondschein. Die Nase war eingefallen und kaum noch als solches zu erkennen. Schütteres langes Haar fiel vom Kopf der Kreatur. Käfer und Spinnen krabbelten über die schmalen Wangen. Da öffnete das Wesen die Augen. Es blinzelte gegen den Strahl der Lampe an. Ein Schrei entfuhr ihm, der McAppton durch Mark und Bein ging. Im nächsten Moment ertönte in einiger Entfernung eine Antwort, ebenso unmenschlich und grausam.

Bei Gott, dort kamen weitere Kreaturen aus ihren Gräbern! Zombies. Nun hatte er die Antwort auf die lang gestellte Frage. McAppton öffnete seinen Koffer. Weihwasser, Kreuze, die Bibel und sein sonstiges Arbeitsgerät konnten ihm nicht helfen. Nur zwei Dinge hatte er, auf die er vertrauen konnte: seinen eisernen Willen – und die Walther PPK.
Ein lautes Knurren hinter ihm ließ ihn herum fahren. Der Siebente hatte sich aus seinem Grab befreit und stand nun direkt vor ihm. Heißhunger lag in seinem Blick. Schon streckte er seine fauligen Hände nach ihm aus. [...]


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