Nadja

© 2005
Das Laub liegt dicht auf dem Boden des Waldes. Mir ist, als ob mit jedem dieser bunt schimmernder Blätter ein Jahr vergangen sei, seit dem wir gemeinsam diesen Weg gegangen sind. Hand in Hand.

Hier haben wir uns verstecken müssen. Es hat ja niemand sehen dürfen.
Gut, vielleicht haben die anderen etwas geahnt. Hätte man nicht gar blind sein müssen, wenn man uns zusammen sah? Du, die Putzfrau auf der Station, ich, der Krankenpfleger in dem Hospital.

Dort hinten ist die Bank, auf der wir damals saßen. Redeten. Wo du mir erklärtest, dass wir uns besser nicht mehr sehen sollten. Nie wieder. Weil du dich fürchtetest. Auch wegen mir.
Ich habe es nicht verstanden und nicht verstehen wollen. Habe dich nur angesehen und dir erklärt, dass ich da sei für dich. Dass ich für deine Sicherheit sorgen würde. Dass wir hier in Deutschland seien und sie uns nichts anhaben könnten.

Oh, wie sehr bin ich verliebt gewesen. In dich. In dein langes schwarzes Haar, deine bronzefarbene Haut. Deine tiefschwarzen Augen. Und in die Grübchen an deinem Mund, wenn du gelacht hast.
Auch das habe ich gesagt.

Und dann hast du mir die Lippen geschlossen. Mit einem Kuss.
Zärtlich bist du gewesen. Aber auch bestimmend.
Du bist gegangen und hast mich auf dieser Bank zurückgelassen.
Ich habe dir versprechen müssen, dir nicht zu folgen.

Als ich später zu meinem Wagen ging, hat es angefangen zu regnen. Ein Sommergewitter. Vielleicht bist du auch nass geworden, und vielleicht hat der Regen den Schmutz des Waldbodens von deinen Kleidern gewaschen.

Heute habe ich noch einmal herkommen müssen. Heute, sieben Jahre, nachdem wir gemeinsam hier gewesen sind.
In der Zeitung stand, dass man diesen 47-jährigen Marokkaner verhaftet hat. Er hat gestanden, seine Tochter Latifa getötet zu haben. Laut Pressebericht, weil er die Schande nicht ertragen konnte, dass sie vor ihrer Hochzeit schon mit einem Mann geschlafen hat.

Auch auf unserer Bank liegt Laub. Mit einer Handbewegung mache ich mir Platz und setze mich.
Ich frage mich, wie es dir wohl ergangen ist seit damals.
Denn heute verstehe ich deine Angst.

E N D E
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